Rezensionen

Rezension Paul Hankamer

Paul Hankamer: Das Jacob Böhme Lesebuch

Zuerst 1925. Neu herausgegeben, erweitert und eingeleitet von Ronald Steckel. Verlag Magische Blätter, Ronnenberg 2022. 415 Seiten, ISBN 978-3-948594-9-1, 36 €

Was ist eigentlich ein Lesebuch? Ist nicht jedes Buch eines zum Lesen? Das Wort vom Lesebuch erinnert von Ferne an ein Schulbuch, eine Fibel, bei der wir bereits als Kinder lernen, wie man liest. Denn vor den Schriften der Weisheit schließlich sind wir alle Kinder, die einer Anleitung bedürfen. Aber diese Erklärung, was ein Lesebuch im Unterschied zu anderen Büchern ausmacht, die ebenfalls gelesen werden wollen, überzeugt uns nicht so recht, weil wir weniger sie lesen, um nur zu lernen.

Die Freude denn auch, die Freude am Thema, am Autor macht eine ganz eigene Motivation aus, von einem Lesebuch zu sprechen, weil wir in ihm blättern können, ohne unter dem Zwang zu stehen, es von vorne nach hinten lesen zu müssen. Wir können in ihm springen, und sind keiner Diskursivität verpflichtet.

Diesem Lesen vergleichbar ist die Lese, bei der wir auflesen, was immer wir auch finden, wie bei der Weinlese, mit der die Ästhetik eines Lesebuches am ehesten vergleichbar sein mag.

Dieses Lesebuch mit – oder richtiger gesagt: aus Zitaten der Werke Jacob Böhmes stammt von 1925. Im Unterschied zum Schrifttum über Literatur kann ein Lesebuch nicht schneller altern als das kohärente Gesamtwerk selbst. Insofern ist eine Neuausgabe von Lesebüchern ein unkritisches Unterfangen. Die Zitate ändern sich schließlich nicht dadurch, dass sie erneut publiziert werden.

Auf Berechtigung prüfen können wir bei Lesebüchern daher weniger die Zitate selbst, wohl aber zwei Dimensionen: die Logik der Anordnung der aufgelesenen Abschnitte sowie die Auswahl der Zitate, mit denen das Gerippe der Anordnung mit Fleisch gefüllt wird. Denn jede Gruppierung von Fragmenten interpretiert sie auch schon, das wissen wir seit Pascal, Lichtenberg oder Nietzsche. Wenn wir eine Textauswahl bei Böhme treffen wollten, in denen das Wort Teufel nicht enthalten wäre, erhalten wir einen anderen Böhme als in dem Fall, da wir nur solche Partien aussuchen wollten, in denen das erwähnte Wort reichlich vorkäme: beide Alternativen könnten bei Böhme allein schon Bände füllen.

Lesebücher haben daher im Unterschied zur Edition ganzer Werke ein eigenes Verhältnis zu Objektivität und Eigensinn. Ist ihre Textauswahl und Anordnung stets subjektiv, so haftet den Zitaten selbst etwas Dokumentarisches an. Kontexte sind referentiell, und ändert man sie, so ändern sich die Inhalte auch. Dieses Phänomen lässt sich bei Hankamer durchaus beobachten, weil es ihm bewusst ist:

Nicht ohne Belang scheint mir etwa die triftige Kapitelstruktur und ihre Bezeichnungen. Hankamer hat seine in zwei Bücher aufgeteilt, von denen das Erste Buch drei Kapitel, das Zweite Buch sieben Kapitel umfasst. Mit gewissem Recht vermutet Ronald Steckel dahinter die Absicht Hankamers, Böhmes System abzubilden, das im Früh- und Spätwerk als siebenstufige Qualitätenlehre immer wieder ausgerollt wird wie ein Teppich, auf dem im mittleren Werk die Dreierstruktur einer majestätisch mächtigen und übrigens sehr realistischen Trinitätsauffassung die Bühne der Philosophiegeschichte betritt. Die Dreier-Struktur übertitelt Hankamer denn auch mit dem Begriff der „Persönlichkeit“, und die Siebener-Struktur mit dem des „Werkes“. Persönlichkeit und Werk verhalten sich zueinander wie Gottheit und Welt. (vgl. S. 13 und S. 407) Aber Jacob Böhme hat keinem seiner Werke diese Struktur gegeben. Er hat die Qualitätenlehre nicht als Lehre diskursiv abgehandelt, sondern sie immer wieder in Nuancen durchdekliniert, oft mehrfach in fast jedem Werk. Er hat die drei Prinzipien nicht nacheinander abgehandelt, sondern sie immer wieder aufgerufen, wiederholt, manchmal in einem Satz fokussiert, manchmal weit ausladend gedehnt. Es ist daher sehr die Frage, ob es sich um ein System handelt, oder um ein allgemeines Raster, das er immer wieder neu füllt.

Es ist denn auch plausibel, dass Hankamer diese Struktur in seinen weiteren Kapitel-Überschriften nicht vertieft, sondern mit ihnen solche Blöcke bildet, mit deren Titel er Jacob Böhme, wo es geht, ins frühe zwanzigste Jahrhundert holt: "Zeit und Umwelt", "Vom Werden und Wirken", "Von der Erkenntnis", so lauten einige der Kapitelüberschriften, die eher einem metaphysischen Bedürfnis der Moderne entsprechen als den festgefahrenen theologischen Ideologien im Dreißigjährigen Krieg, über die Böhme mal souverän, mal atemlos hinwegschrieb.

Dieses Lesebuch reiht sich ideal in die Projekte des Verlages Magische Blätter, der sich der Böhme-Rezeption, ja: Verehrung um 1900 bis 1925 im Rahmen des damaligen Jacob-Böhme-Bundes widmet, und seinen Enthusiasmus in Kunst und Musik fruchtbar einbrachte. Mit dezenter Sorgfalt hat der Herausgeber, Ronald Steckel, in einem Vorwort das Nötigste zu Paul Hankamer notiert und im Anhang ein Glossar gebracht, das der Lektüre sehr hilft. Dankenswert ist sein Entschluss, alle Zitate aus Jacob Böhmes Werken den Sämtlichen Schriften von 1730 zu entnehmen, und nicht, wie Paul Hankamer, der Schiebler’schen Ausgabe von 1847, denn diese glättet Böhmes barocke Sprache noch mehr als jene, auch steht zur weiteren Lektüre die Faksimile-Edition der Ausgabe von 1730 den meisten Lesern eher in Griffweite als die Schiebler’sche, derer man sich zu Hankamers Zeit bediente.

Dieses Jacob Böhme Lesebuch berührt drei Epochen seines Denkens: Erstens die Zeit Böhmes selbst, zweitens die Epoche des Böhme-Verständnisses bei Paul Hankamer und drittens unsere Zeit, für die diese Neuedition des Lesebuches schließlich gedacht und geeignet ist.

Thomas Isermann
 

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