Rezensionen

Rezension Karnitscher Tschesch

Ein vergessener Spiritualist und Nonkonformist

Die Monographie über Johann Theodor von Tschesch (1595-1649)

Auf dem Buchtitel dieser „Untersuchungen und Spurensicherung“ findet sich ein Bild, wohl ein Kupferstich dieses „religiösen Nonkonformisten“: große, müde Augen, wallendes, langes Haar, ein Priesterkragen und ein wärmender Umhang in historisch kalten Zeiten. Etwas halslos sieht er enttäuscht am Betrachter dieses Bildes vorbei, es strahlt Traurigkeit aus.


 

Dementiert wird diese Traurigkeit jedoch von dem ungeheuren, vom engagierten Schwung der Autorin dieses großen ersten Versuchs, das Leben und die Meinungen dieses Tristans unter den unmittelbaren Böhme-Schülern akribisch zusammen zu tragen.

 

Dieses Buch regt an, darüber nachzudenken, was wir eigentlich erkennen, wenn wir uns mit dem beschäftigen, wofür Namen wie Jacob Böhme oder der von Tschesch stehen. Gott? Erlösung? Ja, sie haben etwas mit der Kirchengeschichte zu tun, mit Religion, Mystik, und dann erst mit Philosophie, doch am Ende, wenn die säkulare Rezeption ästhetisch wird, mit Literatur,  deren Formkunst erst ihren Inhalt als sinnlich erfahrbar gestaltet. Auch Leser, die selber nicht konfessionsgebunden „glauben“, konzedieren diesen Schriften und anderen Vertretern ihrer Tradition eine eigenwillige schriftstellerische Faszinationskraft. Wir glauben weniger an Wunder, die diese Heiligen vollbringen, aber wir bewundern sie. Ihre Charaktere sind oft mehr wunderlich als wunderbar. Wenn Tschesch im Untertitel ein „religiöser Nonkonformist“ genannt wird, dann erwarten wir aufsässigen Individualismus, Kritik, Außenseitertum, ja vielleicht Schrulligkeit, die widersteht, nicht weil sie es muss, sondern weil sie es will. Allemal werden wir neugierig. Im Fall harmloser affirmativer Konfession, braver kirchlicher Biedermänner und -frauen würden wir unsere arg strapazierte Ressource Aufmerksamkeit wohl eher schonen.

 

Diese in ihrem Umfang erste Gesamtdarstellung zu Leben und Werk des Schlesischen Ratsgelehrten und Spiritualisten Tschesch ist jedoch unsere Aufmerksamkeit wert. Von ihm wussten wir nicht viel, bevor Tünde Beatrix Karnitscher noch einmal allen Quellen, Handschriften, den Rarissima der Drucke seiner Schriften nachgegangen ist. Bis in die jüngste Literatur, so Karnitscher, verwechselt man seine Vornamen. Bekannt geworden ist Tschesch als Briefempfänger und Gesprächspartner Jacob Böhmes zum calvinistischen „Gnadenwahl“-Thema, als erster und ebenbürtiger Schüler neben Abraham von Frankenberg, mit dem er sich schrieb. Karnitscher geht dem Netzwerk in mehreren Schaubildern nach, auf denen sie das Who-is-Who der Schlesischen Spiritualisten um Jacob Böhme und Tschesch einträgt. Doch zuallererst war er ein Mann seiner Zeit und ihrer Alltage:

 

„Während seiner Tätigkeit als Geheimer Rat an den Höfen von Liegnitz und Brieg übernimmt Tschesch größtenteils verwaltungstechnische Aufgaben, die u.a. das Kriegswesen, steuerrechtliche Angelegenheiten und auch Fragen der Bildung betreffen.“ (S. 91)

 

Als Geheimer Rat Schlesischer Adeliger versah von Tschesch seinen Beruf als Jurist, so dass auch er, neben seinem großen Vorbild Böhme, als theologischer Laie schrieb,  enthusiasmierte Briefe, 1200 lateinische  Epigramme über sein Leben und seine Erleuchtung und etliche, wenig umfangreiche, wenig elaborierte Traktate. Im persönlichen Umkreis von Martin Opitz schrieb er wohl einige deutsche Dichtung, auch Sonett-ähnliche Vierzehnzeiler. Er übersetzte Kirchenlieder aus dem Holländischen und suchte lange vergeblich finanzielle Unterstützer für den Druck seiner Schriften. Ihn plagten Schreibblockaden und er erlitt Hofintrigen. Er war zu gut für diese Welt und wurde mit zunehmendem Alter verbittert und in seinen religiösen Ansichten rigoros. Er floh die Welt und suchte ihr Jenseits. Er verließ die Höfe, die ihn nährten, die ihn narrten, er ging auf Wanderschaft, mitten im Dreißigjährigen Krieg und zu dessen verrohtem Ende. Über Danzig gelangte er nach Amsterdam, dort gefiel es ihm ein gutes Jahr, dann sah man ihn in Augsburg, es zog ihn zurück nach Holland, wo ihm die frische Luft dieses freien Landes offenbar guttat, obwohl er von anderen Erleuchteten auch dort gemobbt wurde. Er hielt sich in Leiden auf. Dann erscheint sein „Kurtzer und einfältiger Bericht von der einigen wahren Religion. Bey diesen letzten bösen Zeiten / da fast Glaub / Lieb und Treu verloschen“. Es ist das Jahr 1646, zwei Jahre vor dem offiziellen Ende des Krieges. In Elbing bei Danzig starb er 1649, arm wie eine Kirchenmaus.

 

Er scheint vom Pech verfolgt gewesen zu sein. Seine zweite Geburt, seine Initiation, heute würden wir sagen: sein Trauma, war 1621 ein Sturz auf der Treppe des Schlosses von Liegnitz, ein Unfall, der eine lebenslange körperliche Behinderung nach sich zog. (vgl. S. 55 und S. 84)

 

Keine angenehme Erleuchtung also war es, wie diejenigen Böhmes anhand schön schimmernder zinnernder Gefäße oder wassergefüllter Schusterkugeln oder ekstatischer Entrückungen, wie man ihm nachsagte und andichtete, nein, ein profaner Treppensturz führte Tschesch zum Umdenken. Ein Pechvogel war er auch auf einer Italienreise, von der aus er weiter ins Heilige Land segeln wollte. In Ragusa (Dubrovnik) aber, „während Tschesch noch >aus Curiosität die Stadt besahe<, soll das Schiff – mitsamt seinem Hab und Gut – davongesegelt sein.“ (S. 125)

 

1627, krank und erschöpft wieder zurückgekehrt in den Brotberuf als Jurist bei Hofe, dichtet er latein, in der dankenswerten Übersetzung von Frau Karnitscher:

 

„Die eingesperrte Seele.

Ach, eingesperrt seufze ich! Meine freie Kraft ist hin! Als ihren Diener beanspruchen und  belästigen mich die Welt und der Hof. Weder hier, noch da, sondern im Inneren findest du das wahrlich Gute, was dir Freude bereitet, du erbärmliches kleines Leben.“ (S. 129)

 

„Die Diskussion um Tscheschs Rolle in der Böhme-Rezeption“, so Karnitscher, „läuft - wie bereits mehrfach aufgezeigt - in den meisten Fällen darauf hinaus, ihn ausschließlich auf einen - in manchen Fällen gar enthusiastischen - Böhme-Nachfolger zu re­duzieren. Eine solche Deutung greift aber meines Erachtens deutlich zu kurz angesichts der Komplexität von Tscheschs Person und seinem Wirken, das sich weit über die Tätigkeit eines Hofbeamten, der das Gedankengut Böhmes auf­greift, hinaus erstreckt: Tschesch ist weitaus mehr als der bloße Böhme-Rezipient, er bedient sich - in eklektischer Weise - verschiedensten Gedankenguts: Man denke nur an die antike Philosophie, den Hermetismus und an die Schriften von Melanchthon, Luther, Weigel, Arndt und Paracelsus - um nur einige zu nennen - sowie an Motive mystischer und spiritualistischer Literatur (in erster Linie die­jenigen Taulers), die sich in seinen Schriften niederschlagen.“ (S. 212)

 

Es wird nicht immer ganz klar, worin dieses „Mehr“, als Böhme-Epigone zu sein, denn eigentlich besteht. Karnitscher dementiert ihren eigenen Anspruch, in Tschesch einen Individualisten mit mystischem Eigenwert zu präsentieren, indem sie das, was über die Böhme-Schülerschaft hinausgeht, doch wieder nur im allgemeinen Bildungsgut der Epoche vorfindet.

 

Die Evidenz der Wahrheit, der mystischen Versenkung, der Meditation wird Spiritualisten wie Tschesch nicht im akademischen Diskurs gewahr, sondern – laienhaft – durch textuelle Übungen, die wie Exerzitien anmuten. „Bei diesem Erkenntnisprozess“, wie es über seine Böhme-Lektüre heißt, „kommt dem Akt des Schreibens und Kopierens eine wesentliche Rolle zu.“ (S. 241) Kopieren ist eine Form der Aneignung, wie Tschesch selber ausführt:

 

„Ich schreibe offt Sachen ab / die ich wohl sonst gedruckt oder geschrieben haben könte / nur darum / daß ich selbige Dinge / die da ausgesprochen seyn / recht anschauen / er­kennen und fassen möge. Stelle dabey mein Hertze zu GOTT / daß er es erleuchte / und was da recht und gut mit seinem Finger darein schreibe. [...] Ich halte solches Ab­schreiben mir als einen Sabbath Gottes / darinn ich stille halte / und zwar der Hand und den äusseren Sinnen in einen guten und zu GOTT leitenden Dinge / zu thun gebe / aber hierinnen zum Wircken Gottes mich darstelle [...].“ (S. 241)

 

Das wäre das traurigste Epigonentum, sein Glück und Heil als Kopist zu sehen. Doch im Kopieren kann sich der "Schüler" meditativ in die Gedanken seines Vorbildes versenken. Als Mystiker der zweiten Reihe folgt Tschesch's Leben, so religiös eigenständig und von seinem Vorbild Böhme unabhängig ihn Karnitscher immer wieder hervorhebt, und folgt sein Selbstverständnis als wiedergeborener Christ der Typologie, den Topoi seiner Zeit. Er war Nonkonformist unter vielen, Aussteiger unter Aussteigern, und dadurch typisch. Persönlich erlebte Traumata (Krieg, Pestilenz, Unglücke) führten viele Menschen in ein zweites Leben, in dem sie vom Heiligen Geist erweckt schienen und in dem sie den Weg zu ihrem Jesus Christus außerhalb der Institution der Kirchen fanden. Sie nannten sich Spiritualisten, eigentlich ein anderes Wort für religiöse Nonkonformisten. Manche Theologen versuchen sie bis heute zu kanalisieren, zu klassifizieren, als fingen sie diese ein wie Schmetterlingssammler in ihren Botanisiertrommeln seltene Exemplare. Karnitscher zitiert dies am Beispiel einer gewissen unfreiwilligen Komik:

 

„Eine Einteilung der Spiritualisten bzw. von Spiritualismus in Typen wie »sakramen­taler Spiritualismus«, »individualistischer Spiritualismus«, »eschatologischer Spi­ritualismus« sowie »ekklesialer Spiritualismus« - Volker Leppin (2008) - oder »evangelische Spiritualisten«, »rationalistische Spiritualisten« sowie »mystische Spiritualisten« - Heinhold-Fast (1962) - oder (ebenso) »mystische Spiritualisten«, »libertinischer Spiritualismus«, »apokalyptischer Spiritualismus« und »humanisti­scher Spiritualismus« - Benrath (1980) - kann als ein Versuch gewertet werden, die Heterogenität des Themas systematisch zu erfassen. Es lässt sich in der For­schung eine Tendenz erkennen, Tschesch vor allem dem mystischen Spiritualismus zuzurechnen.“ (S. 20)

 

Gott sei Dank, möchte man sagen, betont Karnitscher zwei Seiten später, Tesch ließe sich „nicht ausschließlich einer der vorgestellten Kategorien zuordnen.“ (S. 22)

 

Aber was dachte Tschesch, was nicht auch andere dachten, und zwar literarisch besser, historisch früher, philosophisch ausführlicher? Mehrmals betont Karnitscher, Tschesch sei „eklektisch“, ein unschönes Wort, das einen seltsam unwürdigen Klang besitzt.

 

Die Verfasserin hat kein leichtes Thema gewählt, das dadurch erschwert wird, dass wir als durchschnittliche Mystikleser kaum zuhause Tschesch’s Werke stehen haben, in denen wir nachlesen könnten, worum es hier und worum es ihm geht. So spricht Karnitscher in sehr ambitionierter  scientifischer Diktion ÜBER Tschesch, aber kaum MIT ihm, was jedoch nötig wäre, um ihn uns nahe zu bringen. Erst auf Seite 53 erscheint ein Zitat von Tschesch, und dann viele weitere Seiten keines mehr. Der Leser erhält daher keinen „Sound“ dieses traurigen unter den barocken Mystikern. Karnitscher hätte es dem Leser einfacher gemacht, wenn sie ein bisschen mehr und etwas längere Originalzitate gebracht hätte. Ein Sonett, das er geschrieben haben soll, ist nicht ewig lang und könnte zitiert werden, dann wären einige Ausführungen besser nachvollziehbar.

 

Aber das ist nicht so schlimm. Den Rezensenten hätte es schließlich nicht gestört, wenn er nicht beim Lesen solche Lust bekommen hätte, mehr von diesem „eklektischen“ Tschesch zu lesen. Wenn das Verdienst dieses minutiös recherchierten Werkes von Frau Karnitscher über Johann Theodor von Tschesch darin liegt, einmal eine Textedition wenigstens der besten Schriften dieses seltsamen Mystikers des frühen Pietismus anzuregen, wäre dies das schönste Lob, das Philologie sich verdienen kann: Die Liebe zum Wort in ihren Texten zu lesen.

 

Thomas Isermann, Berlin

 

Tünde Beatrix Karnitscher: Der vergessene Spiritualist Johann Theodor von Tschesch (1595-1649). Untersuchungen und Spurensicherung zu Leben und Werk eines religiösen Nonkonformisten. (= Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Band 60). Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2015. 398 Seiten mit einem Einlegeblatt. ISBN 978-3-525-55843-0, 99,99 €

 
 

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